The Neon Cathedral

Gefallener Engel

Silk überprüfte noch einmal die Leiter, dann kletterte sie nach oben. Einen Moment hielt sie inne und sah sich um. Die Sonne stand noch niedrig über dem Horizont. Ein paar letzte Nebelschwaden hingen zwischen den Hügeln und trotzten ihren Strahlen. Dahinter waren im Westen die Ausläufer der Stadt zu sehen. Silk legte das Stück Blech, das sie unten zugeschnitten hatte, auf das Dach und zog sich dann selbst nach oben. Das Loch, das sie flicken wollte, war nicht groß, aber es ließ Feuchtigkeit hinein und Wärme hinaus. Besser, sich gleich darum zu kümmern. Mit routinierten Handgriffen befestigte sie das Blech und dichtete die Ritzen ab. Schon nach ein paar Minuten war sie fertig und betrachtete zufrieden ihr Werk. Dann ließ sie ein letztes Mal den Blick über die Landschaft schweifen. Sie mochte das Fleckchen, auf das die sich zurückgezogen hatte, auch wenn der Anlass dafür kein erfreulicher war. Hier hatte sie ihre Ruhe, nicht nur vor der Besatzungsmacht, sondern auch vor allerlei anderen nervigen Aspekten des Stadtlebens. Die Landschaft war karg - Moose und Heidekraut dominierten die Hügel - aber wunderschön. Genug Nahrung zu finden war nicht immer einfach, aber bis jetzt war sie zurecht gekommen.

Plötzlich fiel ihr ein Lichtpunkt am Himmel auf. Ein Flugzeug? Dafür war er etwas zu schnell. Für eine Sternschnuppe war der Himmel eigentlich nicht mehr dunkel genug. Es sei denn, es war ein großer Brocken. Neugierig folgte sie dem Punkt mit den Augen. Er wurde stetig heller und größer, und schließlich konnte Silk eine längliche Form erahnen. War das ein Raumschiff? Plötzlich wurde das Ding langsamer und seine Flugbahn flacher. Gleichzeitig wurde es weiter größer - beziehungsweise es kam näher. Es war definitiv kein Gesteinsbrocken, sondern ein von Menschenhand gefertigtes Objekt. Es glühte von der Luftreibung, aber es schien einigermaßen intakt zu sein. Am hinteren Ende hing etwas, das ein Bremsfallschirm sein mochte. Vor Silks Augen stürzte der Flugkörper weiter zu Boden und verschwand schließlich hinter einem Hügel. Ein gedämpfter Donnerschlag markierte seinen Aufprall.

Mit klopfendem Herzen stieg Silk die Leiter hinunter. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Hatte sie wirklich gerade ein Raumschiff abstürzen gesehen? Hatte es einen Defekt gehabt? Oder hatte im Orbit ein Kampf stattgefunden? War Besatzung an Bord? Gab es Überlebende? Würden sie Hilfe benötigen? War es ein Schiff der Besatzer oder des Widerstandes? Eigentlich war sie hier hinaus gezogen, um dem Konflikt zu entgehen. Sollte sie jetzt zur Absturzstelle gehen, auf die Gefahr hin, doch wieder hinein gezogen zu werden? Noch während sie sich die Frage stellte, war ihr klar, dass sie genau das tun würde. Allein ihre Neugier würde ihr keine Ruhe lassen. Aber noch schwerer wog der Gedanke, dass jemand verletzt und hilflos sein könnte. Sie sah noch einmal in die Richtung, in der sie dass Objekt fallen gesehen hatte. Es konnte nur ein paar Kilometer entfernt sein. In einer oder zwei Stunden müsste sie es erreicht haben. Sie packte einen kleinen Rucksack mit einer Wasserflasche und einem Erste-Hilfe-Set, schnappte sich eine leichte Jacke und machte sich ohne Umschweife auf den Weg.

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“Unser Patient ist für den Moment stabil, aber noch bewusstlos.” Silk schloss die Tür hinter sich und ging zum Spülbecken hinüber. “Ich habe nicht die Ausrüstung für eine vollständige Diagnose. Es würde auch helfen, zu wissen, was für eine Spezies sie - oder er - überhaupt ist.” Sie drehte den Wasserhahn auf und sah sich nach etwas wie Seife um.

Die anderen saßen am kleinen Küchentisch. Fischer blickte noch finsterer als sonst. “Was machen wir dann mit ihm?”

Silk machte ohne Erfolg einige Schubladen auf und wieder zu. “Sie braucht einige medizinische Dinge, und wenn möglich einen Arzt. Im Idealfall sollten wir sie in ein Krankenhaus bringen.” Natürlich würde das nahezu unmöglich sein, aber sie mochte den Gedanken nicht, das arme Ding aufzugeben.

Amy lümmelte betont gleichgültig in ihrem Stuhl, die Füße auf dem Tisch. “Du hast bemerkt, dass diese Kolonie vom Feind besetzt ist? Viel Glück dabei, eine graue Zwergin unbemerkt irgendwohin zu bringen. Wir haben sie schon aus diesem Scheißwrack rausgezogen und hier her gebracht. Das ist mehr, als irgendwer erwarten kann.”

“Pass auf, was du sagst!” fuhr Fischer sie an. “Dieses Schiff ist ein heiliges Artefakt. Wir haben wahrscheinlich einen Engel im Nebenraum liegen. Ich werde tun, was auch immer ich kann, um ihm zu helfen.”

Amy hob die Hände. “Wie du meinst. Aber wenn ihr die Kreatur retten geht, solltet ihr euch wenigstens auf ein Pronomen einigen, sonst wird es noch komplizierter.”

Oat verschränkte seine riesigen Armee und lehnte sich zurück. Der Stuhl sah aus, als könnte er unter seiner Last zusammenbrechen. “Ich bin nicht so der religiöse Typ, aber ich stimme dem ernsten Gesellen hier irgendwie zu. Engel oder nicht, es besteht kein Zweifel, dass diese Schiffe auf unserer Seite sind. Sie haben sich über Brixton so ziemlich den Arsch mit der gegnerischen Flotte abgewischt. Ihr habt alle die Videos gesehen. Dieser Pilot muss überleben und wieder da raus. Und, wenn es hilft”, fügte er mit einem durchdringenden Blick auf Amy hinzu, “ich bin sicher, dass die alliierten Streitkräfte eine hübsche Belohnung an die Leute, die so ein wertvolles Gut retten, bezahlen werden.”

“Endlich mal ein vernünftiges Argument”, murmelte Amy.

Silk hatte aufgegeben und wusch ihre Hände ohne Seife. Sie beäugte gerade ein schmutziges Geschirrtuch auf der Arbeitsfläche, als sie eine Bewegung vor dem Fenster sah. Sie duckte sich hinter die zerfledderten Vorhänge und spähte an ihnen vorbei nach draußen. Zwei Gestalten kamen auf das Haus zu. “Scheiße.” Die ungewohnten Proportionen und der blasse Chitinpanzer waren unverkennbar. “Hebt euch die Diskussion für später auf. Wir haben Gesellschaft.”