The Neon Cathedral

Flare

Flare faszinierte mich von Anfang an. Natürlich fühlte ich mich durch unsere ähnlichen Fähigkeiten mit ihr verbunden. Aber es war mehr als das. Wir trafen uns das erste Mal bei der Jagd auf Hellfire, Projekt “Fight Fire With Fire”, wie es inoffiziell hieß. Außer Flare und mir, Flamehawk, waren Blaze und Vulcan angeheuert worden. Wir bildeten ein leidliches Team - ausgenommen Flare. Sie schien stets über den Dingen zu schweben, im übertragenen, aber auch im wörtlichen Sinn. Fliegen kann auch ich in meiner Falkenform, aber nach einer halben Stunde fühle ich mich wie nach einem ambitionierten Dauerlauf durch den kompletten Regent’s Park. Sie hingegen kann stunden-, tagelang in der Luft stehen ohne auch nur zu bemerken, dass die Zeit vergeht. Sie isst und trinkt nicht, sie schläft nicht. Sie strahlt ständig eine solche Hitze aus, dass sie nicht einmal in einem normalen Haus leben kann. Damit zurecht zu kommen wäre aber noch einfach, wenn sie nicht ebenso weit von der psychosozialen wie von der physikalischen Realität entfernt wäre. Ihr Blick ist immer ins Leere gerichtet; sie scheint über irgendetwas nachzusinnen, von dem Normalsterbliche und sogar Superhelden wie wir keine Ahnung haben; oft muss man sie mehrfach ansprechen, bevor sie ein Gespräch mit einem beginnt, das dann genau so schwierig aufrecht zu erhalten wie zu beginnen ist.

Icarus 3 war eine GSA-Mission, die einige Tage in einem sehr niedrigen Orbit um die Sonne kreiste, um mehr über unser nährendes Gestirn herauszufinden. Niemand hatte sich je näher an die Sonne heran gewagt. Neu entwickelte Hitzeschilde schützten die empfindlichen Instrumente und gewannen sogar noch Energie dabei. Zudem hatten die meisten Crewmitglieder Superfähigkeiten, die ihnen Resistenz gegen Hitze oder Feuer verliehen. Zuerst verlief alles nach Plan, doch dann machte eine Fehlfunktion einen Weltraumspaziergang notwendig. Selbst unter günstigen Umständen war dies ein riskantes Unterfangen, doch in dieser extremen Sonnennähe war nur auf der sonnenabgewandten Seite des Raumschiffs ein Überleben möglich; jeder Fehltritt konnte den Tod bedeuten. Claire Summer, eine erfahrene Astronautin, sollte den nötigen Eingriff vornehmen. Captain Clive Harvey schätzte ihre Erfahrung wertvoller ein als die Resistenzen der übrigen Kandidaten. Zuerst gab der Erfolg ihm Recht. Es gelang Claire, entlang des Schiffs bis zu der betreffenden Komponente vorzudringen, den Fehler zu lokalisieren und zu beheben. Doch als sie ihre Sicherungsleine von der Komponente löste, sorgte irgendetwas - vielleicht eine unbedachte Bewegung, vielleicht ein plötzlicher Gasausstoß - dafür, dass sie vom Raumschiff weg driftete, und bevor irgendjemand etwas unternehmen konnte, war sie aus dem geschützten Bereich hinter dem Schiff und seinen Hitzeschilden heraus geschwebt. Die anderen Crewmitglieder versuchten verzweifelt, Claire zurück an Bord zu holen. Warum sie ihre Manövriereinheit nicht benutzte, um ihre Bewegung zu verlangsamen oder umzukehren, blieb unklar; auch weil kurze Zeit später der Funkkontakt abbrach. Ihre Kollegen mussten tatenlos zusehen, wie sie sich immer weiter von ihnen entfernte. Was dann jedoch geschah, hatte niemand erwartet und würde auch niemand erklären können. Aus heiterem Himmel loderte eine Sonneneruption auf, schoß in den Raum hinaus und umschloss Claire vollständig. Die ebenso gelähmte wie entsetzte Besatzung berichtete später einhellig, es habe ausgesehen, als wolle die Sonne sich Claire holen. Nachdem nicht zu erwarten war, dass es sterbliche Überreste zu bergen gab, geschweige denn mehr, brachte man die Mission in Trauerstimmung zu Ende und richtete nach der Rückkehr auf die Erde eine große Gedenkfeier für die im Auftrag der Wissenschaft verunglückte Claire Summer aus.

Wenige Tage später häuften sich über den ganzen Globus verteilt Berichte von einem leuchtenden Objekt, einer Art “zweiter Sonne”, die, mal bei Tag, mal bei Nacht, am Himmel stand und nicht hell genug für die Sonne selbst, aber zu leuchtstark selbst für einen Kometen war - obwohl von offizieller Seite natürlich sogar der Abendstern als Erklärung herangezogen wurde - und nach manchen Berichten unvorhersehbare Bewegungen vollführte. Schließlich war das “Objekt” über der Basis der Global Space Agency in Peru zu sehen, in der die Icarus-3-Besatzung ihre Vorbereitungszeit für die Mission verbracht hatte. Nach etwa einer Stunde bewegte es sich auf die Basis zu, was auch keine der überstürzt eingeleiteten Abwehrmaßnahmen verhindern konnte. Vulcan, der sich gerade eher zufällig auf der Basis aufhielt, wurde ihm entgegen geschickt und erkannte bald, dass das “Objekt” menschliche Gestalt hatte. Als diese Nachricht die Basis erreichte, war es der damalige Captain der Icarus-3-Mission, der zuerst die unerhörte Vermutung hatte - ich weiß leider nicht, wie er sie zuerst formulierte; vielleicht, dass Claire Summer den Zwischenfall auf unbegreifliche Weise überlebt hatte. Meine bevorzugte Umschreibung ist: Bei jenem Ereignis war Claire gestorben - und Flare geboren worden.

Um es kurz zu machen, er sollte Recht behalten. Claire war zu Flare geworden, auch wenn niemand wusste, wie oder warum. Doch die meisten von uns hatten in dieser Hinsicht Demut gelernt. Seit den 40er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war der Verstand der Menschen immer wieder auf harte Proben gestellt worden, als immer öfter Menschen durch verschiedenste Einflüsse außerordentliche Kräfte erlangten. Während es anfangs noch einige wenige waren, auf denen oft das Schicksal des gesamten Planeten lastete, war man nach einem halben Jahrhundert an einen Punkt gekommen, an dem Superhelden als eine neue Bevölkerungsgruppe bezeichnet werden müssten, für die Gesetze und Regelungen geschaffen werden mussten, und die im Alltag fast jedes Erdenbürgers vorkamen. Die Suche nach Erklärungen lief im Hintergrund weiter, wichtiger jedoch war die Frage, wie die unterschiedlichen Fähigkeiten am effektivsten genutzt werden konnten. “Fight Fire With Fire” war nur eine von vielen Philosophien. Ich habe auch schon in Gruppen mit Charakteren mit von den meinen völlig verschiedenen Kräften gearbeitet.